Zwischen Superheld und High-Tech-Heinzelmännchen
Professor Dr.-Ing. Matthias Sturm, HTWK Leipzig, unterrichtet angehende Ingenieure in Elektronik sowie Embedded-Systemtechnik, er forscht und lehrt seit rund 20 Jahren.
Sie sind winzig klein, blitzschnell und enorm leistungsfähig. Sie arbeiten im Hintergrund, schützen und retten Leben, verändern und beeinflussen unsere Zukunft grundlegend. Nur Insider wissen von ihrer Existenz, aber jeder nutzt sie - Embedded-Systeme.
Fühlen Sie beim Einsteigen in Ihr Auto das komplexe Computersystem aus über 70 eingebetteten Systemen, die sie sicher und komfortabel ans Ziel bringen? Nein? Dennoch, sie sind da. Zahlreiche hochspezialisierte Kleinstcomputer erfüllen im Auto, die ihnen speziell zugewiesene Aufgabe: zum Beispiel Assistenzsysteme, wie das Antiblockiersystem ABS, das elektronische Stabilisierungsprogramm ESP oder die Verkehrsschilderkennung. Was sich anhört wie die Beschreibung kleiner Helferlein à la Heinzelmännchen, steht für höchste Ingenieurskunst, für Erfindergeist und Hochtechnologie, für eine technologische und letztlich bessere Zukunft.
Prof. Dr.-Ing. Matthias Sturm,
HTWK Leipzig, unterrichtet angehende
Ingenieure in Elektronik sowie Embedded-
Systemtechnik, er forscht und lehrt seit
rund 20 Jahren.
Bild: Hochschule für Technik,Wirtschaft
und Kultur Leipzig (HTWK)
Es existiert kaum ein modernes Gerät, ob Smartphone oder Fieberthermometer, das nicht mindestens ein Embedded-System in sich trägt. Das bedeutet auch, dass diese Technologie ein sehr erfolgreicher Wirtschaftsmotor ist: Der Umsatz mit Embedded-Systemen lag 2012 alleine in Deutschland erstmals bei über 20 Milliarden Euro und ist insgesamt um 6% gewachsen. Das gab der IT-Branchenverband Bitkom zur embedded world 2012, der internationalen Leitmesse der Branche, bekannt.
"Professor Sturm, in modernen Autos arbeiten viele kleine oder Kleinst-Computer, so genannte Embedded-Systeme. Stimmt es, dass sie Dinge beherrschen, die Menschen nicht leisten können?"
"Heute arbeiten über 70 verschiedene Embedded-Systeme in einem Auto. Alle sind miteinander verbunden und kommunizieren untereinander. So entstehen sehr komplexe Systeme, die Dinge können, die selbst ein Formel-1-Weltmeister, wie Sebastian Vettel, nicht schafft.
In der Automobilwerbung werden einige sichtbare Embedded-Systeme als Assistenzsysteme aufgeführt und erläutert. Die meisten verrichten ihre Arbeit jedoch unerkannt und ohne dass wir sie bewusst wahrnehmen.
In kritischen Situationen übernehmen diese Embedded-Systeme die Fahrzeugkontrolle. Kommt es beispielweise zu einem Unfall, so geschehen im Auto ganz bemerkenswerte Dinge: In Bruchteilen von Sekunden erkennen die Sensoren die Gefahr für die Insassen, ermitteln Kräfte und Richtungen, aktivieren die Sicherheitseinrichtungen wie Gurtstraffer und Airbags, sorgen für eine Benachrichtigung der Helfer mit genauer Ortsangabe und reduzieren die Anzahl weiterer Gefahrenquellen nach dem Unfall, wie zum Beispiel das Absperren der Kraftstoffzufuhr. Selbst wenn diese Systeme nicht in der Lage sind die Physik außer Kraft zu setzen, so leisten sie doch in Superheld-Manier Lenk- und Bremseingriffe und stabilisieren so das Fahrzeug an den Grenzen des Machbaren."
"Werden die Autos nicht unsicherer, wenn derart viele Embedded-Systeme verbaut sind?"
"Hier dürfen Sie die Embedded-Systeme nicht mit Ihren Erfahrungen am heimischen PC vergleichen. Gerade weil die Systeme oft in Lebensbereiche, oder besser, in Überlebensbereiche, von Menschen eingreifen, werden ganz besondere Sicherheitsanforderungen an diese Systeme gestellt. Und Ingenieure entwickeln Baugruppen, die diese auch erfüllen."
"Wie darf ich mir denn ein Embedded-System vorstellen?"
"Embedded-Systeme sind Computereinheiten, deutlich kleiner als der PC zu Hause. Sie sind für eine spezielle Aufgabe konzipiert, also nicht multifunktional wie der PC sondern hochspezialisiert. Die Embedded-Systeme bestehen meist aus einer Leiterplatte mit elektronischen Schaltkreisen und einem Kleinstcomputer als Herzstück, dem durch ein Programm seine Funktionalität gegeben wird.
Durch die innovative Gestaltung von Hard- und Software ergeben sich fast unendlich viele Anwendungsmöglichkeiten. Die Entwickler programmieren das Embedded-System nun so, dass es für die spezielle Aufgabe optimal ist. Das ist nicht ganz einfach, denn oft stehen ein begrenztes Platzangebot sowie eine limitierte Energiemenge einer hohen Rechenleistung des Systems gegenüber. Hier ist die Innovationskraft der Ingenieure gefragt. Nur wenige, dafür eindeutige Eingabeelemente und ein übersichtliches Display gewährleisten eine einfache Bedienung, genau das, was wir uns alle von technischen Geräten wünschen.
Die Liste der heute verbauten Embedded-Systeme ist lang und ich möchte nur einige Anwendungen aus dem Haushaltsbereich nennen: Kühlschrank, Kaffeemaschine oder Fieberthermometer werden von Embedded-Systemen gesteuert. Ebenso Telefonanlagen, Heizungssteuerungen und Rauchmelder, die Wetterstation und der Rasenroboter sowie die Messung des Wärme- und Energieverbrauchs in der Wohnung. Zunehmend werden diese miteinander vernetzt, so dass ein Gerät auch das 'Wissen' eines anderen Gerätes erhält. Diese Prozesse sind dem Cloud-Computing ähnlich, jedoch erfolgt die Kommunikation zwischen den Embedded-Systemen ohne, dass Menschenhand nötig wäre. Das Prinzip birgt enorme Potentiale aber auch Risiken."
"Wenn das heute schon alles möglich ist, was bringt uns die Zukunft?"
"Die Ingenieurskunst und die technische Entwicklung insbesondere in der Computer- und Elektrotechnik haben sich in den vergangenen 10 bis 15 Jahren enorm weiterentwickelt. Durch die Miniaturisierung elektronischer Bauteile, die gestiegene Leistungsfähigkeit von Prozessoren, die Softwareentwicklung und die Computertechnik im Allgemeinen, sind wir heute in der Lage unglaublich kleine, leistungsfähige und nahezu 100-Prozent ausfallsichere Produkte bauen zu können.
Im Auto kommen sukzessive Extras in die Serienproduktion, die ohne Embedded-Systeme nicht denkbar wären: Abstandsradar, Totwinkelassistenten oder Head-up-Displays, letztere ermöglichen beispielsweise die Projektion des Navigationssystems auf die Windschutzscheibe.
Die Einführung von Gurtstraffer, ABS, ESP und Airbag, sind alle mit dieser Technik erst möglich geworden. Zwischen 1970 und 2010 ist der Kfz-Bestand in Deutschland um fast 200 Prozent gestiegen, ein enormer Zuwachs. Parallel stieg in diesem Zeitraum zwar die Anzahl der Unfälle um 73 Prozent, aber deutlich weniger als die Zunahme an Verkehrsdichte. Das ist positiv zu werten. Noch positiver ist die Meldung, dass die Zahl der Verletzten um über 30 Prozent und die der Verkehrstoten sogar um rund 81 Prozent gesunken ist. Diese Zahlen gab das Bundesamt für Straßenverkehr bekannt. Ich bin der festen Überzeugung: Die Embedded-Systeme-Entwickler, die Ingenieure aus den Bereichen Hard- und Software, haben einen großen Beitrag dazu geleistet, den automobilen Individualverkehr sicherer zu machen - alleine mit den Assistenzsystemen, die in den letzten Jahrzehnten verbaut wurden.
Wir arbeiten weiter daran, dass der Straßen-, Schienen- und Luftverkehr mit der konsequenten Weiter- und Neuentwicklungen technischer Helfer und neuer, zunehmend vernetzter Embedded-Systeme noch sicherer und umweltschonender wird. Dies trifft gleichermaßen auf viele Einsatzbereiche von Embedded-Systemen zu, wie beispielsweise der Medizintechnik.
"Stichwort Medizintechnik: Was haben diese Systeme damit zu tun?"
"Medizingeräte stecken mittlerweile voller Embedded-Systeme. Ein einfaches Beispiel ist das digitale Blutdruckmessgerät. Bis vor kurzem musste man zur Blutdruckbestimmung zum Arzt gehen. Heute sind auch für Laien bedienbare Blutdruckmessgeräte günstig verfügbar.
Ein weiteres Beispiel ist der moderne Herzschrittmacher, er wäre ohne Minicomputer nicht denkbar. Durch den Einsatz von Kleinstcomputern mit minimalstem Energieverbrauch und ausgeklügelten Programmen beträgt die Betriebszeit der Schrittmacher heute durchschnittlich 10 bis 12 Jahre. Eine Verlängerung dieser Zeit erscheint sehr wahrscheinlich.
Ein von mir geleitetes Forschungsprojekt an der HTWK-Leipzig, das wir jüngst präsentierten, war der naturgetreue Nachbau eines Teils der menschlichen Wirbelsäule zum Zweck des chirurgischen Trainings. Die verblüffende Realitätsnähe konnte nur durch den Einsatz zahlreicher Embedded-Systeme erreicht werden. Dies erlaubt einen völlig neuartigen Ansatz der chirurgischen Ausbildung. Dies sind wichtige Entwicklungen, die Patienten unmittelbar zu Gute kommen."
"Was beschäftigt Sie mit Blick auf Embedded-Systeme am meisten?"
Es sind zwei Aspekte: Der erste, die Sicherheit der Embedded-Systeme. Das bedeutet, ausfallsichere Systeme, die vor äußeren, unbefugten Manipulationen geschützt sind. Mit der drastisch steigenden Zahl der Embedded-Systeme, deren wachsender Vernetzung - drahtlos oder kabelgebunden - mit zunehmender Kommunikation der Systeme untereinander, erhöht sich die Gefahr böswilliger Eingriffe in diese komplexen Strukturen. Dafür bei allen Entwicklern ein Bewusstsein zu schaffen, sehe ich als eine meiner vordringlichen Aufgaben.
Das zweite ist die globale Verantwortung der Ingenieure für ihr Handeln. Wir müssen mit unseren Entwicklungen dazu beitragen, dass die globale Wirtschaftsleistung bald 10 Milliarden Menschen ernähren kann. Das bedeutet, wir müssen schonend mit unseren Ressourcen umgehen. Nur so geht das Wachstum nicht auf Kosten der nächsten Generationen. Wir müssen die Welt also in der Balance halten.
Embedded-Systeme sind ein Motor des Wirtschaftswachstums, da sie in so vielen Bereichen einsetzbar sind. Wir brauchen dieses Wachstum, um die Lebensbedingungen auf diesem Planeten für alle Menschen zu verbessern. Nur so wird es gelingen, eine friedliche Zukunft zu gestalten. Und die liegt mir wirklich am Herzen."
Quelle: NürnbergMesse